Hier bekommt Ihr stellvetretend für die Emsland Rolli Mobility von Kai einen sehr seltenen tiefen, ehrlichen und vor allem emotionalen Einblick über seine Erfahrungen und Erlebnissen zum Thema „Ein Leben mit Multiple Sklerose„!
Mein Name ist Kai J. aus Nordhorn, bin 43 Jahre alt und habe seit Anfang Juni 2006 die Diagnose Multiple Sklerose (MS). Als ich meinen ersten spürbaren Schub bekam, bin ich erst kurz vorher vom Grafschaft Bentheimer zum Bremer Rettungsdienst gewechselt. Rückblickend hatte ich die Multiple Sklerose wahrscheinlich schon Jahre früher.
Was ich vorab auch noch sagen möchte ist, dass die hier beschriebenen Dinge nur von meiner Situation mit der MS beruhen. Multiple Sklerose wird nicht ohne Grund „die Erkrankung mit den 1000 Gesichtern“ genannt. Jede MS ist wirklich anders, auch wenn manche Symptome sich gleichen. Es liegt, und das ist meine Meinung, vielleicht auch daran, dass jedes Leben, jede Lebenssituation, jede Lebensweise anders ist und sich anders auf die Erkrankung auswirken kann.
Mein erster Schub äußerte sich als eine Sehnerventzündung und ich konnte damit nur noch Menschen wie in einem Tunnel erkennen. Sobald die mir gegenüberstehende Person sich nicht mehr in meinem direkten Sichtfeld befand wurde diese undeutlich und unscharf. Doch nicht nur die Person oder Personen vor mir konnte ich nicht mehr deutlich erkennen, auch alles weitere wie Hindernisse, Tiere und auch den Straßenverkehr. Was dann noch dazu kam oder eigentlich zeitgleich auftrat, war eine Störung meines Gleichgewichts. Um geradeaus laufen zu können benötigte ich fast eine ganze Gehwegbreite. Beide Symptome waren für mich, aber auch für andere eine Gefahr und deshalb suchte ich in Bremen einen Neurologen auf.
Nach einigen Untersuchungen äußerte er den Verdacht auf ED (Encephalomyelitis disseminata, der medizinischer Ausdruck für MS). Zuhause wurde ich einige Tage später an eine nahegelegene Radiologie überwiesen. In dieser Praxis hat man dann eine Magnetresonanztomographie (kurz: MRT) des Schädels, der Halswirbelsäule (HWS) und der Brustwirbelsäule (BWS) gemacht und bestätigte den Verdacht des Neurologen aus Bremen. Auf Grund der Befunde bekam ich eine Einweisung ins Krankenhaus nach Meppen um eine Lumbalpunktion machen zu lassen (= Punktion des Nervenkanals der Wirbelsäule, um ein paar Tropfen des Hirn- bzw. Nervenwassers {das Liquor} zu entnehmen). Um die Symptome zu behandeln bekam ich dort nach der Entnahme schon mal Cortison, was ein schnelleres Abklingen der aktiven Entzündungsherde bewirkt. Am zweiten oder dritten Tag stand dann meine Diagnose fest: Ich habe Multiple Sklerose (MS).
Da die Probleme aber nur etwas zurückgingen, konnte ich meinen Beruf als Rettungsassistent leider nicht weiter ausüben. Nach einem knappen Jahr begann ich dann mit einer zweijährigen Umschulung zum Bürokaufmann bei meinem früheren Arbeitgeber in Nordhorn. In den ersten zwei Jahren nach der Diagnose hatte ich noch weitere Schübe. Doch nach der Umschulung bis heute sind diverse Probleme, ohne erkennbare Schübe dazugekommen. Nach meinen ersten drei Jahren mit der MS wurde diese von der schubförmig remittierenden MS (RRMS) auf die sekundär progredient MS (SPMS) mit aufgesetzten Schüben neu diagnostiziert. Auch Medikamente haben bei mir nur zeitweise oder kaum angeschlagen. Daraufhin habe ich erstmals auch eine Selbsthilfegruppe für MS besucht und kann das nur jeder MSlerin oder jedem MSler ans Herz legen.
Im achten Jahr als Bürokaufmann und immer weniger werdender Arbeitszeit wurde mir als mittlerweile Teilerwerbstätiger die volle Erwerbsunfähigkeitsrente durch die Rentenversicherung zugesprochen. In der Zeit der Teilerwerbstätigkeit habe ich auch versucht wieder Sport zu treiben, was mittlerweile nur noch im Rollstuhl möglich war. Was aber nicht heißen soll, dass alle MS Erkrankten früher oder später im Rollstuhl landen. Nein! Ich kenne viele Erkrankte die noch gehen können (mit aber auch ohne Hilfsmittel).
Im Rolli habe ich das Bogenschießen für mich entdeckt und nur relativ kurz Rollstuhlbasketball spielen können. Dazu bin ich regelmäßig Handbike (Radfahren für Rollifahrer*innen) gefahren und habe meinen Übungsleiter für Rollstuhl- und Breitensport beim DRS durch den BSG Meppen gemacht. Diesen habe ich leider ebenfalls nur für eine kurze Zeit bei den Emsland-Rollis-Mobility ausüben können. Zu dem Ehrenamt des Übungsleiters war ich noch im Behindertenbeirat tätig und habe auch eine Selbsthilfegruppe für neurologisch erkrankte Menschen gegründet. Doch auch diese Aufgaben habe ich durch das Fortschreiten der Multiple Sklerose frühzeitig aufgeben müssen.
Jetzt habe ich einen voll elektrischen Stehrollstuhl. Ich kann zwar noch ein paar Schritte am Rollator laufen aber der Rollstuhl hilft mir wieder mobiler sein zu können. Bei Infektionen oder Hitze wurden bzw. werden alle Symptome teilweise so heftig verstärkt (das sogenannte Uhthoff-Phänomen), was es mir nicht einmal möglich macht mich im Bett selber umzudrehen. Zu den Anfangs genannten Symptomen sind im Laufe der Zeit einige weitere, wie z.B. Spastiken, Sprechprobleme, Probleme der Fein- und Grobmotorik, Trigeminusneuralgie und noch etliche andere dazugekommen.
Viele Symptome bei MS Erkrankten wie zum Beispiel Inkontinenz, sexuelle Probleme wie erektile Dysfunktion, kognitive Störungen, Depressionen usw. Einige werden auch gerne mal verschwiegen da es vielleicht von manchen Leuten abwertend und nicht wirklich ernst genommen wird. Diese Probleme werden eventuell nur nebenläufig von z.B. manchen Ärzten wahrgenommen. Es gibt bestimmt auch fehlende Vertrauenspunkte von Betroffenen um sich diesbezüglich behandelnden Ärzten, Therapeuten zu öffnen oder es fehlen einfach Personen, Partner*in, Freunde denen man sich anvertrauen kann bzw. möchte.
Sehr wichtig sind auch verschiedene Arten von Therapien. Ich selber mache Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und gehe bzw. rolle zur Psychotherapie. Bei so manchen Alltagsproblemen kann ich nicht mehr helfen oder bin auf Hilfe angewiesen. Es fängt schon bei Kleinigkeiten zum Beispiel bei Haushaltsarbeiten wie Staubsaugen, Geschirrspüler ein- oder ausräumen an. Aber auch bei etwas mehr oder weniger aufwendigeren handwerklichen Aufgaben im und ums Haus stehe ich mir teils selber im Weg. Diese werden dann meistens von meiner Frau, zum Teil von unseren Kindern oder anderen Familienangehörigen erledigt. Was aber für mich immer ein riesen Kampf ist, da ich helfen möchte aber nicht kann. Was sich dann wieder negativ auf die Psyche und meine Symptome auswirkt. Auch viele Hoffnungen, Träume usw. die ich so im Laufe meines bisherigen Lebens habe oder hatte sind so nicht mehr umsetzbar.
Was auch sehr wichtig ist sind Hobbys. Ich selber habe momentan leider keine mehr, denn alles was für mich interessant wäre/war und mir Spaß machte, kann ich durch die MS nicht mehr machen. Somit bin ich schon seit längerem auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Zum Schluß kommen dann noch meine Stimmungsschwankungen, die mich an meiner Psyche und an mir selbst extrem Zweifeln lassen. Das Schlimme daran ist, dass ich es nicht immer steuern kann. Alles in allem ist es für mich wie ein Teufelskreis und wünsche es niemandem.
Doch bei allen Schwierigkeiten haben meine Frau und unsere zwei Mädels immer zu mir gehalten, mir geholfen, mich beschützt und gestützt. DAFÜR LIEBE ICH DIE DREI ÜBER ALLES!
Ich würde mich sehr freuen wenn ihr uns beim Spenden-Tandem-Marathon und somit auch unsere Gruppe „Emsland Rolli Mobility“ unterstützt.
Vielen Dank, liebe Grüße und viel Gesundheit!
Kai J.